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Reitmeister-Serie Teil 2. – Martin Plewa: Die Natur des Pferdes

16. Januar 2015, in Aktuell, Reportagen

Reitmeister Martin Plewa, 1988 Mannschafts-Olympiasieger Vielseitigkeit, ehemaliger Bundestrainer der deutschen Vielseitigkeits-Equipe und dreizehn Jahre lang Leiter der Westfälischen Reit- und Fahrschule Münster, gehört zum Autoren-Team der alten und neuen FN-Richtlinien. Für das Interview mit Britta Schöffmann entschied er Sie sich für das erste Kapitel, in dem es um die Natur des Pferdes und die Beziehung Reiter-Pferd geht.

Martin Plewa Box Frieler
Reitmeister Martin Plewa. Bild: reitsportfoto.de

Britta Schöffmann: Herr Plewa, warum liegt Ihnen dieses Thema besonders am Herzen?
Martin Plewa: Ausgangspunkt war die Überlegung, wie klassisches Reiten zu definieren und zu erklären ist. Sehr häufig wird nämlich klassisches Reiten nur der Dressur zugeordnet. Dabei gilt unsere ‚klassische Reitlehre‘ ja für alle reiterlichen Betätigungen mit dem Pferd und ist nicht bezogen auf eine bestimmte Disziplin. Damit unterscheidet sich unsere Reitlehre auch von vielen anderen Ausbildungssystemen, die sich mehr an den gezielten Anforderungen bei einer bestimmten Nutzung des Pferdes orientieren. Unsere klassische Reitlehre ist Grundlage für die Ausbildung eines jeden Pferdes, weil sie sich an der Natur des Pferdes orientiert. Alle in den Richtlinien beschriebenen Ausbildungsprinzipien basieren auf den Anforderungen und Bedürfnissen, die das Pferd an uns stellt – und nicht umgekehrt. Es heißt in den Richtlinien für jeglichen Umgang mit dem Pferd: „Der Reiter muss sich mit seinem Verhalten an der Natur des Pferdes orientieren – nicht an der Natur des Menschen“. Auch alle Punkte der Ausbildungsskala lassen sich mit der Natur des Pferdes, seiner Anatomie und Physiologie, seiner Biomechnik und mit ethologischen Gegebenheiten begründen. Klassisch Reiten bedeutet damit, artgerecht mit dem Pferd umzugehen, unabhängig von seiner Verwendung. Das erfordert vom Reiter, dass er sich mit der Natur des Pferdes auseinandersetzt, seine wesentlichen natürlichen Merkmale als Flucht-, Lauf- und Herdentier berücksichtigt und auf die typischen Verhaltensweisen eingeht. Nur wer sich auf die generellen natürlichen Veranlagungen und die individuellen Eigenschaften eines jeden Pferdes einfühlsam einlässt, wird auf Dauer erfolgreich und damit harmonisch gemeinsam mit seinem Pferd Sport betreiben können. Umgekehrt sind mangelndes Gefühl und fehlendes Verständnis für das Pferd nach meinen Erfahrungen die häufigsten Gründe für Rückschläge in der Ausbildung oder gar für das völlige Scheitern in der Zusammenarbeit zwischen Reiter und Pferd.

Wo, glauben Sie, liegen hinsichtlich der Beziehung Reiter-Pferd in der heutigen Zeit möglicherweise die größten Defizite? Und warum gibt es sie?
Nach meiner Beobachtung ergeben sich Defizite häufig dadurch, dass viele Reiter ihre Pferde vermenschlichen bzw. Pferden menschliche Empfindungen, menschliche ‚Denkweisen‘ und Verhaltensmuster, aber auch menschliches Lernverhalten unterstellen. Beispiele: Die Luftströme im Stall, die der Mensch vielleicht als ‚Zug‘ empfindet, spürt das Steppentier Pferd als angenehme Luftzirkulation um seinen Körper, die es benötigt, weil es eine vergleichsweise kleine Körperoberfläche hat. Oder dem Pferd werden Verhaltensweisen unterstellt, die wir vom hinterhältigen Menschen kennen, zu denen Pferde aber nicht fähig sind. Gründe für diese Umgangsmuster mit dem Pferd können unterschiedlich sein, aber ich glaube, dass anders als noch vor Jahrzehnten, viele Pferdebegeisterte nicht aus Familien kommen, in denen ‚Pferdeverstand‘ quasi mit der Muttermilch weitergegeben wurde, und die zwar gerne Reiten lernen wollen, aber die Kenntnisse zur Natur des Pferdes nicht vermittelt bekommen.

Warum sind das Wissen und die Auseinandersetzung mit der Natur des Pferdes für den Pferdesportler so wichtig?
Man kann die Zusammenhänge der Reitlehre nur verstehen, wenn man sie mit der Natur des Pferdes erklärt. Häufig hilft die Beobachtung frei laufender Pferde: Wie äußert sich der taktmäßige, geregelte, rhythmische Bewegungsablauf, den jedes (gesunde) Pferd zeigt. Zum Erreichen der Losgelassenheit hilft auch die Vorstellung, wie ein Pferd sich ohne Reiter zwanglos auf der Weide bewegt und wie sich Verspannung in unrationellen, unnatürlichen und unnötig beanspruchenden, ungesunden Bewegungsabläufen äußert. Dem Reiter muss beispielsweise auch klar sein, dass die Entwicklung der Schubkraft in die korrekte Anlehnung dem Pferd das Tragen des Reitergewichtes erleichtert. Ermöglicht er dies nicht durch z.B. Blockieren der Hinterbeine auf Grund (falschen) Reitens ‚von vorne nach hinten‘, möglicherweise mit zusammengezogenem, engem Hals, wird das Pferd Widerstände zeigen, gegebenenfalls auch gesundheitliche Schäden davontragen. Es ließen sich viele weitere Beispiele aufführen, die dem Reiter klar machen, dass die ganze Reitlehre der Natur des Pferdes ‚abgelauscht‘ ist. Überhaupt muss der Reiter im Sattel grundsätzlich seine menschlichen Instinkte und seine Verhaltensmuster als Fußgänger vergessen und ablegen, wenn er pferdegerecht und verständlich auf sein Pferd einwirken will.

Es wird immer wieder vom „Fluchttier Pferd“ gesprochen. Was bedeutet das letztlich für den Reiter und für die Ausbildung eines Pferdes.
Flucht ergreift ein Pferd, wenn es Angst hat oder sich unsicher fühlt und sich eine Fluchtmöglichkeit ergibt. Kann ein Pferd nicht fliehen, kann es auch auf verschiedene Weise reagieren. Die wichtigste Fluchtprävention ist, zum Pferd eine Art Sozialpartnerschaft aufzubauen, in der das Pferd den Menschen als höherrangigen ‚Artgenossen‘ akzeptiert. In der Kommunikation mit dem Pferd muss ich erreichen, dass das Pferd mich respektiert, mir vertraut und sich in meiner Gegenwart sicher fühlt. Das Herstellen dieser Rangordnung darf nie mit Kraft oder gar Gewalt erfolgen, sondern mit Verständnis für die Verhaltensweisen des Pferdes, mit Intelligenz und Konsequenz. Dabei darf man sich nie mit einem Pferd ‚anlegen‘, weil es dann passieren kann, dass das Pferd seine körperliche Überlegenheit auszuspielen lernt. Gegenseitiger Respekt und gegenseitiges Vertrauen sind die Garanten für einen harmonischen Umgang zwischen Mensch und Pferd.

Wie hoch schätzen Sie die Auswirkungen der Natur des Pferdes in Bezug auf seine Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit ein?
Die Leistungsfähigkeit ergibt sich einerseits aus den angeborenen Talenten des Pferdes, aber auch aus der individuellen, artgerechten Förderung der Veranlagungen in der Ausbildung im Training. Das höchstveranlagte Pferd kann seine Leistungen nicht zeigen, wenn nicht seine Bereitschaft zu Leistung und Zusammenarbeit gefördert wird. Ein systematischer Aufbau des Pferdes entsprechend unseren Ausbildungsgrundsätzen, alters- und leistungsgerechte Übungen, die das Pferd nie überfordern, ihm aber die Arbeit unter dem Reiter zunehmend erleichtern mit immer feiner werdender Einwirkung durch den Reiter, stellen in der Regel sicher, dass jedes Pferd sein individuelles Leistungsoptimum erreichen kann. Das Eingehen auf die mentalen Befindlichkeiten des Pferdes, das Verständnis für die psychische Situation und Belastbarkeit geben grundsätzlich die Gewähr, dass das Pferd die ihm abverlangten Aufgaben in Zufriedenheit erfüllen kann. Nur dann entsteht Harmonie, die Ziel jeglicher Ausbildung ist.

Wir sprechen oft von der Natur des Pferdes und von seinen Charaktereigenschaften. Welche Charaktereigenschaften wünschten Sie sich von Reiter bzw. Pferdeleuten?
Reiter und Pferdeleute sollten sich und ihr Handeln stets hinterfragen, inwieweit es die Natur des Pferdes ausreichend berücksichtigt. Verantwortungsbewusstsein, Geduld, Konsequenz und die Verpflichtung zur eigenen Weiterbildung sind wesentliche Voraussetzungen für einen befriedigenden Umgang mit dem Pferd. Denn: Im Umgang mit Pferden lernt man nie aus!

(„Mit freundlicher Genehmigung des PM-Forums, Mitgliederzeitschrift der Persönlichen Mitglieder der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN)“)

Beitragsbild: Katja Stuppia