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Das Pferdeburnout – vom Tragen erschöpft. Von Katja Eisenring.

3. September 2015, in Medizin, Reportagen

„Trageerschöpfung“ ist ein Gespenst, das einem im Therapie und Trainingsalltag aus vielen Boxen, Offenställen, Weiden und Reithallen entgegen weht. Im Zeitalter der Rollkurdiskussion führt der Begriff  „Trageerschöpfung“ leider ein Schattendasein. Das Grundproblem beschreibt der Begriff selbst eigentlich schon ganz plastisch. Die Muskulatur ist in ihrer Leistungsfähigkeit und Funktionalität erschöpft. Sie wird durch länger andauerndes Überlasten, nicht erkannter Schmerzen, mangelnder Ausrüstung, zu wenig an die Versammlung heranführendes, gymnastizierendes Training an falschen Orten aufgebaut (z.B. Unterhals, kompensatorische Kruppmuskulatur, kurze Genickmuskulatur) und bei den am Tragen beteiligten Strukturen (Oberhals, Hanke/Kruppe, Bauch) fehlt sie. Da die Muskeln für die Stabilisierung der Gelenke, die Koordination der Bewegung und schlussendlich für das Tragen eines Menschen zuständig sind, ist es nur logisch, dass bei ungenügender und/oder kompensatorischer Bemuskelung Strukturen wie die Wirbelsäule, Sehnen, Bänder und Gelenke Schaden nehmen. Ein trageerschöpftes Pferd zeigt dies einer erfahrenen Person bereits anhand von Gebäudemerkmalen und Verhalten. Z.B.:

– Einbuchtungen hinter dem Widerrist in der Sattellage

– ein abgesackter Brustkorb

– aufgewölbte Lendenwirbelsäule ähnlich eines Karpfenrückens

– „Loch“ beim Sacrum (Kreuzbein)

– unterhalb vom Brustkorb ist auf beiden Seiten ein harter Strang zu erfühlen, die verspannte Bauchmuskulatur; das Pferd wird auffällig „kitzelig“

– verstärkte Muskulatur an der Vorhand, diese trägt mehr Last

– atrophierte Kruppmuskulatur v.a. Glutaeus und Semitendinosus, sie ist häufig total verhärtet

– die Pferde klemmen im Widerrist und können sich nicht mehr fallen lassen

– die Schultermuskulatur ist fest, der Unterhals gut trainiert

– das Pferd vermeidet schmerzvolles Dehnen und Biegen, was zu Unstimmigkeiten mit dem Reiter führt

– apathisches Stehen in der Box, häufig in sich gekehrter Blick

– dazu können Verspannung und Blockaden in Genick, Kiefergelenk und Zungenbein kommen, was sich z.B. auch in nur einseitigen Zahnkanten äußern kann.

(Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, kann aber vielleicht etwas weiterhelfen und Denkanstösse geben.)

Die Entstehung einer solchen Trageerschöpfung ist ein schleichender Prozess, der aber schneller vonstattengeht, als man es beim ursprünglich nicht für’s Tragen konzipierten, auf vier Beinen stehenden, 300 – 800kg schweren, robust wirkenden Fluchttier Pferd annehmen würde. Im Therapie- und Trainingsalltag werden aus jeder Sparte trageerschöpfte Pferde vorstellig. Für Muskeln, die etwas leisten sollen und das müssen die Muskeln unsere Pferde, da wir sie schlicht und ergreifend reiten – muss man etwas tun und zwar das Richtige zur richtigen Zeit, in der richtigen Intensität. Die Symptome einer Trageerschöpfung geht man am besten zuerst mit Therapie an. Erstes Ziel muss sein, die Verspannungen und Blockaden zu lösen und Schmerzfreiheit herzustellen. Dies muss immer der erste Schritt sein, da gesunde Muskulatur nur durch Schmerzfreiheit entstehen kann. In meiner langjährigen Praxis hat es sich sehr bewährt, die Therapie bald mit angepasstem Training vom Boden aus zu kombinieren und den Besitzer dabei mit einzubeziehen. Ist das Pferd dann verspannungs- und schmerzfrei und hat die ersten „richtigen“ Muskeln aufgebaut, wird das Trainingsrepertoire auf’s Reiten ausgeweitet. Das Wiederherstellen des muskulären (und meist auch seelischen) Gleichgewichts und das Üben gesunderhaltender Bewegungsabläufe dauert und benötigt Geduld. Doch wird man dann auch reich belohnt. Das Pferd wird schöner, stärker, freudiger und verletzungsresistenter – übrigens auch, wenn noch keine Trageerschöpfung vorliegt.

Text: Katja Eisenring

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