Schliessen

Warum drücken Springpferde immer wieder zum Ausgang? Das Interview mit der Verhaltensmedizinerin.

25. August 2016, in Newsticker, Springen

In Aachen wurde es bittere Realität. Clooney von Martin Fuchs drückte am letzten Hindernis zum Ausgang, der junge Schweizer verpasste den Sprung. Warum kommt es immer wieder vor, dass Pferde im Parcours zum Ausgang drücken? Was geht im Pferd vor? Warum gehen Pferde aber problemlos auf Reisen und lassen sich in kleine Anhänger verfrachten? pferdonline fragte nach bei der Verhaltensmedizinerin Ruth Herrmann.

pferdonline: Am letzten grossen Springen in Aachen hat Martins Fuchs’ Clooney zum Ausgang gedrückt. Fuchs sagte, nicht zu wissen wo das Problem lag. Was ist Ihre Einschätzung?
Ruth Herrmann: Dafür kann es viele mögliche Gründe geben, so dass ich diesen spezifischen Fall nicht beurteilen kann und will.

Dann allgemein gefragt: Wieso drücken Pferde überhaupt zum Ausgang?
Das passiert tatsächlich immer wieder. Dem Pferd wäre es in dem Moment angenehmer, draussen zu sein. Das kann daran liegen, dass ihm der Ort oder die Situation nicht geheuer ist oder dass ihm etwas lästig ist – zum Beispiel der Sattel nicht passt, die Zäumung kneift – oder etwas in der Kommunikation während des Trainings unklar ist. Sprich das Pferd erhält keine klaren Belohnungen, weiss nicht genau, was es machen soll, ist verunsichert. Oder aber das Pferd ist allein in der Halle und vermisst seinen Kumpel. Im Endeffekt ist das eine Trainingsfrage: Wie schafft man es, dass das Pferd gerne im Viereck ist und bleibt.

Manche Pferde scheinen ja tatsächlich im Rampenlicht aufzublühen, trotz hunderttausenden Zuschauern, Lautsprecherdurchsagen und tosendem Applaus. Wie passt das zum Pferd als Fluchttier?
Wenn man das Pferd auf ein Fluchttier reduziert, greift das zu kurz. Pferde sind doch schon seit ein paar tausend Jahren domestiziert. Wir spannen Pferde seit Jahrhunderten vor Wagen, wo sie eingeschränkt sind und ihnen etwas scheppernd folgt. Andere treten in Shows auf und lernen mit der Zeit, dass die Arbeit im Zirkus spannend ist und der Applaus Lob bedeutet. Diese grosse Anpassungsfähigkeit und diese sehr gute Trainierbarkeit zeichnen Pferde eben auch aus.

Also denken Sie, dass auch Turnierpferde durchaus wirklich glücklich sein können?
Ja, weil dabei ganz viele Faktoren eine Rolle spielen. Es gibt in jeder Sparte, auch im Freizeitbereich, glückliche und unglückliche Pferde. Wichtig ist, dass man auf die individuellen Bedürfnisse seines Pferdes eingeht.

Wieso macht zumindest den meisten Sportpferden weder das Fliegen noch das Fahren in engen Transportern etwas aus?
Ich würde nicht sagen, dass es ihnen nichts ausmacht. Reisen ist durchaus eine Belastung für den Körper und die Psyche. Die Herzfrequenz steigt, Cortisol wird ausgeschüttet, das Immunsystem ist belastet. Wichtig ist deshalb, dass Pferde gut vorbereitet werden und genügend Erholungszeiten haben. Auch Freizeitreiter sollten ihr Pferd sukzessive an den Transporter gewöhnen.

Wie geht man am besten vor?
Gute Grundlagen in der Bodenarbeit sind eine Voraussetzung. Dann sollte man entspannt üben, in den Transporter einzusteigen und kleinere Fahrten unternehmen, damit Pferd und Mensch das Prozedere für den Ernstfall kennen. Profis strahlen meist Ruhe aus, das überträgt sich auf die Pferde. Ausserdem sind bei Flügen oft auch andere Tiere dabei, die darin schon geübt sind.

Spannend zu sehen ist ja, dass Pferde in Flugzeugen gelassen wirken können, wohingegen andere, objektiv gesehen wirklich ungefährliche Dinge – wie eine Bank oder ein Stein am Wegrand – unglaublich bedrohlich wirken können. Wie erklären Sie das?
Wichtig zu bedenken ist, dass Pferde anders wahrnehmen als wir Menschen. Pferde hören zum Beispiel höhere Töne und ihre Augen reagieren sehr empfindlich auf Bewegungen am Horizont. Ausserdem verarbeiten sie Sinneseindrücke anders. Ein einfaches Beispiel: Wenn die Sonne durch die Reithallenfenster scheint und Lichtflecke auf dem Boden zu sehen sind, erscheinen uns diese völlig unwichtig. Viele Pferde irritieren die Flecken aber. Auch Veränderungen in der Umwelt werden schnell anders bewertet. Man darf auch nicht unterschätzen, was gerade Freizeitpferde leisten müssen. Sie müssen sich auf vieles einlassen, haben vielleicht keinen so getakteten Tagesablauf wie vielleicht ein Profipferd. Dadurch können auch mal psychische Belastungen entstehen. Dann kann Scheuen auch der Ausdruck eines generellen Unwohlseins sein.

Welchen Tipp haben Sie für Reiter mit verhaltensauffälligen Pferden?
Wichtig ist, sich in die Situation des Pferdes hineinzuversetzen: Ein Pferd muss ständig verstehen, was jeder Reiter von ihm will – auch wenn der Reiter schlechte Laune hat oder selbst nicht genau weiss, was er will. Meistens müssen wir uns also selbst an der Nase nehmen und nicht aufhören zu lernen, was für Pferde wichtig ist.

Zu guter Letzt: Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Irrtümer über das Wesen des Pferdes?
„Der macht das extra!“, höre ich oft, wenn Pferde nicht sofort machen, was ihre Reiter möchten. „Er weiss es eigentlich ganz genau“, heisst es dann. Aber das stimmt eben nicht. Wissen sie es ganz genau und sind durch sorgfältiges Training motiviert, dann reagieren sie auch sofort. Es ist also eine Frage des korrekten Trainings, welches auf einer eindeutigen Kommunikation beruht und das Wesen des einzelnen Pferdes berücksichtigt.

Zur Person 
Ruth Herrmann führt eine Praxis für Verhaltensmedizin in Olten. Darüber hinaus ist die 48-Jährige als Begleittierärztin Verhaltensmedizin an der Tierklinik Aarau West tätig und doziert über Verhaltensmedizin beim Pferd, unter anderem an den Berner Fachhochschulen und der Vetsuisse Fakultät Zürich. In der Vergangenheit dressierte Herrmann auch schon Pferde im Circus Monti. Studiert hat sie an der Universität Zürich Veterinärmedizin und erwarb später das Diplom Verhaltensmedizin STVV.

Das Gespräch führte Ann-Kathrin Schäfer